78

»Sind Sie immer noch Special Agent?« Delsavio grinste. »Oder sollte ich Sie vielleicht Professor nennen? Ich habe gehört, Sie unterrichten jetzt.« Frankie war Dominic Cavellos LangzeitNummer-zwei, doch während der Abwesenheit seines Chefs hatte er das Sagen. Auf dem Familienorganigramm war er als der Unterboss bekannt und seit dreißig Jahren mit einer von Vito Genoveses Nichten verheiratet. Königswürde im Cosa-NostraStil. Aber er war nicht unbedingt einer der fünf römischen Adoptivkaiser. Wahrscheinlich hatte er zehn bis zwanzig Morde in Auftrag gegeben, auf die wir ihn nicht festnageln konnten.

Ich folgte Frank in dessen Büro. Sein billiger Sperrholzschreibtisch war übersät mit Familienbildern. An den Wänden hingen ein paar miese Fotos von Italien und ein signiertes von Derek Jeter beim Essen in einem von Frankies Restaurants. In einer Ecke standen ein paar Zeichenrollen mit Bauplänen. Ich lächelte. Ich war mir nicht sicher, ob Frankie Delsavio überhaupt jemals in die Nähe einer Baustelle gekommen war.

»Sie müssen mich schon entschuldigen.« Er bedeutete mir, Platz zu nehmen. »Ich war ein paar Tage nicht hier. Musste runter nach Atlantic City und eine Baustelle überprüfen. Also«, er grinste affektiert, »wie läuft’s denn mit dem Prozess?«

»Leck mich, du Kakerlake.« Ich packte ihn am Kragen, zog ihn aus seinem Ledersessel und drückte ihn gegen die Wand. »Ich will wissen, wo er ist.«

Ein paar Bücher und andere Sachen fielen zu Boden. Das Grinsen auf Frank Delsavios Gesicht verschwand. Dieser hier war kein kleiner Mann, und niemand, nicht einmal die Polizei, schubste ihn in der Gegend herum.

»Ich habe Sie als Freund eingeladen, Nicky Smiles. Da draußen sind ungefähr zwei Dutzend Leute, die nicht viel in ihrem Leben zu tun haben. Sie können Ihnen Ihren Kopf wegpusten. Sie sind nicht einmal im aktiven Dienst, Pellisante. Sind Sie sicher, dass Sie das hier wollen?«

»Ich habe mich nach Cavello erkundigt«, erinnerte ich ihn und drückte ihn noch fester gegen die Wand.
»Woher soll ich denn das wissen, Nicky. Ich habe doch gesagt, dass ich eine Zeit lang weg war. Abgesehen davon erzählt mir der Boss nicht von jeder kleinen Entscheidung, die er trifft.«
»Jede kleine Entscheidung.« Ich lächelte, während ich innerlich kochte. »Weißt du, Frankie, warum ich deinen beschissenen Laden nie geschlossen habe? Der einzige Grund war, weil du der Einzige bist, der hier Sinn für Humor hat. Ansonsten würdest du bereits auf deinen Prozess warten, so wie er. Aber ich werde dich einlochen, Frankie. Ich könnte es schon morgen tun. Wir haben genug Beweise, das schwöre ich. Wir werden dieses ganze Unternehmen hier dicht machen. Ihr werdet alle eure BMWs verlieren, eure fett bezahlten Jobs.«
»Wissen Sie, was ich glaube, Nicky?« Den Blick auf mich gerichtet, schüttelte er lächelnd den Kopf. »Ich glaube, im Moment haben Sie nicht die Macht, das zu tun. Ich glaube nicht einmal, dass Sie offiziell an diesem Fall arbeiten. Der einzige Grund, warum ich Sie hereingelassen habe, war der Respekt vor Ihrer letzten Position. Jetzt wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mein Hemd losließen – bevor ich unseren Anwalt hereinrufe und er Sie und das FBI mit einer Klage wegen Belästigung drankriegt. Das käme sicher nicht gut an bei Ihren Studenten.«
»Wir reden hier nicht darüber, zur Tagesordnung zurückzukehren, Frankie.« Ich packte noch fester zu. »Das hier ändert sich nicht. Das ist wie Bin Laden. Du wirst dich hüten, dich mit irgendwas in der Art zu beschäftigen. Ich gebe dir eine Woche, dann tue ich, was ich versprochen habe. Ich mache den Laden hier dicht.« Ich ließ sein Hemd los, blickte ihn aber immer noch an. »Es war ein einjähriges Kind, das dein Boss verbrüht hat, Frankie. Hätte deine Enkelin sein können.«
Delsavio rückte seinen Hemdkragen wieder zurecht. »Ich weiß nicht, wo Dominic Cavello steckt. Und das ist die Wahrheit. Und nur so nebenbei bemerkt, Nicky: Es besteht nicht die geringste Chance, dass es meine Enkelin hätte sein können. Weil ich ihn nie verpfeifen würde.« Dann grinste Delsavio und zuckte mit den Schultern. »Aber wenn er zufällig anruft oder mir eine Postkarte schickt, verspreche ich, dass Sie der Erste sind, dem ich Bescheid gebe. Noch vor seiner Frau und seinen Kindern, Nicky Smiles.« Er grinste. »Soll ich ihm was ausrichten, wenn er sich meldet?«
»Nur eine Kleinigkeit.« Ich strich Delsavios Jackett glatt. »Sag ihm, ich würde meine Versprechen auch halten.«
Eine Stunde später stand ich vor dem stellvertretenden Direktor Michael Cioffi, der das FBI-Büro in New York leitete. »Ich will wieder zurück«, sagte ich.
Cioffi war mein Chef, Er war derjenige, der mir nach meinem Angriff auf Cavello eine Auszeit verordnet hatte. Abgesehen von den politisch Orientierten in Washington war er der Ranghöchste beim FBI.
»Nick.« Er lehnte sich zurück. »Niemand macht Sie für das verantwortlich, was gestern passiert ist.«
»Darum geht es nicht, Mike. Es geht um Cavello. Und ich weiß beim FBI mehr über ihn als sonst jemand. Abgesehen davon wissen wir beide, dass ich für die Professorenlaufbahn ein bisschen zu spät dran bin.«
Cioffi lächelte. Er erhob sich und trat ans Fenster. Von dort aus hatte man einen Blick auf Ground Zero, den riesigen, leeren Platz. Dahinter erhob sich die Freiheitsstatue. »Wie geht’s den Rippen?«
»Null Problemo.« Ich hob meine Arme. »Ich kriege ein dickes, fettes Lob, weil ich im Dienst verwundet wurde, und brauchte nicht mal über Nacht im Krankenhaus zu bleiben.«
»Genau das ist das Problem, Nick.« Cioffis Lächeln war diesmal angespannt, während er sich mit den Händen auf dem Fenstersims abstützte. »Eigentlich waren Sie gar nicht im Dienst. Ray ist schon seit Monaten damit beauftragt. Und im Moment ist die Kacke richtig am Dampfen.«
Ich erhob mich ebenfalls. »Es geht doch nicht um Ray, Mike. Ich will ihm seinen Posten nicht streitig machen, sondern für ihn arbeiten. Teilen Sie mich wieder ein. Sie brauchen mich.« Ich blickte den Chef an, unter dem ich acht Jahre lang gedient hatte. »Ich brauche es, Mike.«
Cioffi blickte mich streng an. Ich wurde nicht schlau aus ihm. Er ging zu seinem Schreibtisch, wo er nach einer Akte griff, die wie ein Einsatzbericht aussah. »Ich habe gehört, Sie haben heute Morgen einem Gewerkschaftsbüro in New Jersey einen Besuch abgestattet. Sie sind nicht im aktiven Dienst, Nick. Sie können nicht einfach frei Schnauze herumlaufen. Wir haben Leute auf diesen Fall angesetzt, Nick. Es geht nicht, dass hinter deren Rücken gepfuscht wird.«
»Das verstehe ich, Mike. Deswegen will ich wieder zurück.«
Cioffi setzte sich. Ich wartete lediglich auf ein Nicken, doch er stieß nur lange und nachdenklich die Luft aus. »Ich kann nicht.«
»Sie können was nicht?« Hätte er eine Waffe gezogen und mir ein paar Hohlspitzgeschosse in die Brust gejagt, hätte ich sicher kein verdutzteres Gesicht gemacht.
»Mike?«
»Sie sind einer der Besten, die ich habe, Nick. Aber Sie haben zu wenig Abstand zu diesem Fall. Viel zu wenig. Sie sind viel zu emotional. Das hier ist keine Hexenverfolgung, Nick, sondern eine FBI-Ermittlung. Die Antwortet lautet nein.«
Mein Unterkiefer sank nach unten. Ich saß da, während sich die Worte einzeln in mein Hirn bohrten.
»Ich teile Sie einer anderen Aufgabe zu, wenn Sie wieder dabei sein wollen. Wall Street, Antiterror, egal was, Nick. Aber nicht für diesen Fall.«
Nicht für diesen Fall. Ein Schlag in die Magengrube. Jahrelang hatte ich diesen Bastard gejagt, hatte bei seiner Verhaftung zwei Männer verloren. Ich wollte keine andere Aufgabe. Verständnislos starrte ich Cioffi an. »Bitte, Mike …«
»Nein.« Cioffi schüttelte wieder den Kopf. »Es tut mir leid, Nick, Sie sind draußen. Meine Entscheidung ist endgültig.« Richard Nordeschenko hatte Washington, D.C., mit dem Flugzeug verlassen. Direkt vor der Nase der allmächtigen USRegierung. Über London nach Tel Aviv. Dann war er an der Küste entlang nach Haifa gefahren.
Die Akazien blühten, als er in seinem auf seine Bedürfnisse angepassten Audi S6 das Karmelgebirge zu seinem Haus hoch über dem Mittelmeer hinauffuhr. Vor der Ausreise aus den Staaten hatte er seine Zusatzausweise verbrannt, weil er sie nie wieder brauchen würde.
»Vater!«, rief Pavel fröhlich, als Nordeschenko durch die Tür trat. Er war zwei Tage früher als erwartet zurück. Seine Frau Mira kam aus der Küche gerannt. »Richard! Bist du das?«
»Ja, ich bin’s«, antwortete Nordeschenko. Er nahm beide fest in seine Arme. Noch vor drei Tagen war ungewiss, ob er sie je wiedersehen würde. »Ist das schön, wieder zu Hause zu sein.«
Das war es tatsächlich. Der Blick durch die Glastür auf das türkisfarbene Mittelmeer war wie ein Willkommensgruß, wie ein Stimmungsaufheller für ihn. Ebenso wie die zärtliche Umarmung seiner Familie. Er würde sie nie wieder täuschen. Er hatte so viel Geld, wie er brauchte – seine Karriere war zu Ende. Und schließlich war diese Art von Arbeit eher für junge Männer geeignet.
»Vater, schau mal.« Pavel zog ihn an der Hand. »Ich habe eine Verteidigung gegen Kasparows Spanische Eröffnung gefunden. Ich habe sie geknackt!«
»Was wir doch für einen Einstein großgezogen haben«, witzelte er mit Mira.
»Nein, was für einen Kasparow«, korrigierte ihn Pavel.
Der Junge zerrte ihn ins Zimmer. Nordeschenko war erschöpft. Nicht nur vom Flug. Er hatte Cavello in einem sicheren Haus in der Nähe von Baltimore abgesetzt. Das Schwein sollte in eine Kiste gepackt und auf einen Frachter verladen werden. Und wohin? Nordeschenko fand das Ziel einigermaßen belustigend. Selbst Interpol würde nicht auf die Idee kommen.
Er war glücklich, dass sich ihre Wege getrennt hatten. Dieses bösartige Tier tötete aus Sport, nicht fürs Geschäft oder aus Notwendigkeit. Es lag in seiner Natur. Damals in Russland hätte man auf ihn gespuckt und ihn einen Teufel genannt. Nun ja, Nordeschenko hatte seine Arbeit erledigt. Er hoffte, dieses Stück Dreck nie wieder in seinem Leben sehen zu müssen.
»Schau mal, Vater.« Pavel zog ihn zum Schachspiel, wo er einen damenseitigen Läufer anhob.
Nordeschenko nickte, allerdings nur zum Schein. Er war so unglaublich erschöpft. In den Figuren auf dem Brett erkannte er nur ein Durcheinander. Auch Schach war was für junge Männer. Doch er lächelte und wuschelte seinem Sohn im Haar. »Schau in der Tasche nach. Ich habe dir was mitgebracht«, sagte er.
Hastig öffnete der Junge die Verpackung und riss die Augen weit auf.
World Championship Poker. Pavel brach in helle Freude aus. »Komm«, sagte er und schob das Schachbrett zur Seite. »Wir spielen.«
»Mein kleiner Einstein will Poker spielen? Okay. Höchstens drei Spiele, bis einer gewonnen hat. Dann werde ich ungefähr eine Woche lang schlafen!« Als Nordeschenko einen Stuhl an den Tisch zog, erinnerte er sich an den großen Bluff, den er in New York abgezogen hatte und der schon eine Ewigkeit zurückzuliegen schien. »Und ich kann dir eine ziemlich gute Geschichte vom Pokern erzählen, Pavel.«
Seine Füße fühlten sich doppelt so dick an, wie sie waren. »Ich will nur noch schnell die Schuhe ausziehen.«
Eine ganze Woche lang verließ ich meine Wohnung kein einziges Mal. Immer wieder ließ ich das Band von Cavellos Flucht laufen. Die Szene im Fahrstuhl. Ich hatte sogar die Zeit gemessen – genau siebenundvierzig Sekunden. Ich sah es mir immer wieder an. Dann spulte ich es zurück. Und dann noch einmal. Und noch einmal.
Ab und zu klingelte das Telefon – der Arzt, der sich nach mir erkundigte; mein Abteilungsleiter vom College; das FBI, weil immerhin noch eine Untersuchung lief. Und Andie, die mich ein paar Mal auf dem Handy anrief.
Schließlich ging ich nicht mehr ran, auch nicht ans Handy. Sah mir nur noch die Aufnahme an. Jedes Mal war es dasselbe. Cavello streckt die Hand aus und drückt den Knopf. Die beiden Marshals versuchen, ihn zu packen. Die Türen gleiten zur Seite. Der Mann mit Bart tritt ein und überrascht die Marshals. Keine Zeit, um zu reagieren. Er erledigt die beiden Marshals und zieht Cavello die Verkleidung über. Nur ein paar Sekunden später sind sie weg.
Ich konzentrierte mich auf den Kerl mit dem Bart. Holte sein Gesicht nah heran. Ich versuchte, mir jede Falte, jeden Gesichtszug zu merken. Dann blätterte ich die Fotos durch, die ich vom Heimatschutz erhalten hatte. Ich wusste nicht, wonach ich suchte. Aber irgendetwas mussten mir diese Bilder verraten.
Cavello war fort. Wahrscheinlich schon außer Landes. Man konnte aus Newark oder Baltimore mit einem Frachter verschwinden; man konnte auf irgendeinem Landestreifen in Mexiko in einen Privatjet steigen, ohne einen Flugplan einreichen zu müssen. Reisepässe ließen sich fälschen.
Immer wieder rief ich mir in Erinnerung, dass ich seit dreizehn Jahren beim FBI war. Es war meine Welt, mein Leben. Den Eid, den ich geschworen hatte, das Gesetz zu wahren – es war ein heiliger Eid.
Aber etwas, das Andie gesagt hatte, gab mir zu denken.
»Du kannst die Welt nicht verändern, nur weil du sie so haben möchtest«, hatte sie mir durch die Tür zugeflüstert.
Draußen war es wieder dunkel geworden. Ich nahm einen Schluck von meinem Bier und spulte das Band zurück.
Ich erinnerte mich, was ich ihr durch die Tür geantwortet hatte.
Ich kann es aber versuchen.
Ich zuckte zusammen, als es klingelte. Ich überlegte, einfach nicht zu reagieren. Beweg dich nicht, wer auch immer das ist, er geht wieder weg. Langsam nahm ich einen Schluck von meinem Bier.
Es wurde weiter geklingelt. Hartnäckig. Lästig. Nervenaufreibend.
»Nick. Jetzt mach schon auf. Sei kein Trottel.« Es war Andie.
Vielleicht schämte ich mich, sie zu sehen, weil ich ihr ein Versprechen gegeben hatte, das sich jetzt als leer erwies. Vielleicht hatte ich Angst, ihr noch mehr Schmerzen zu bereiten, sie mit hineinzuziehen, nachdem mir klar war, was ich tun wollte.
Sie klingelte weiter. »Nick, bitte. Du bist echt ein Wichser.«
Vielleicht weil ich wusste, dass ich mich Andie gegenüber nicht einfach wieder abgrenzen konnte, sobald ich die Tür öffnete. Vielleicht war es das, was mir ein bisschen Angst einjagte. Vielleicht auch ganz viel Angst.
Aber sie klebte an diesem verdammten Klingelknopf.
Ich hielt das Band an und ging in den Flur. Einen Moment blieb ich an der Tür stehen, unsicher, was ich tun sollte. Da klingelte sie wieder.
»Hey!«, rief ich schließlich und schob den Riegel zurück. »Ich bin ja schon da.«
Sie trug einen grünen Kapuzenpullover und Jeans. »Du siehst furchtbar aus«, meinte sie nur.
»Danke.« Ich ließ sie eintreten. »Wie …?«
»Du siehst aus, als hättest du seit einer Woche dieselben Klamotten an«, fiel sie mir ins Wort. »Und dich zu rasieren würde auch nichts schaden.«
»Wie hast du mich gefunden?«
Mit aufmerksamem Blick betrat sie meine Wohnung. »Meinst du, es gibt noch einen Agent Pellisante, der angeschossen ins Bellevue Hospital gebracht wurde? Du hast mich nicht zurückgerufen.«
»Du wärst eine gute Polizistin«, sagte ich und schlurfte ins Wohnzimmer.
»Du bist ein mieser Freund.«
»Du hast Recht. Entschuldige.«
»Entschuldigung nicht angenommen. Das hier könnte eine hübsche Wohnung sein.«
Sie zog ihren Mantel aus und hängte ihn samt ihrem Schal über einen Stuhl. Ich setzte mich auf die gepolsterte Armlehne des Sofas.
»Nachdem ich neulich von dir weggegangen bin, war ich beim FBI. Ich wollte mich wieder an den Ermittlungen beteiligen.«
»Okay.«
»Man sagte mir, ich sei draußen. Vom Fall abgezogen. Keine Chance, jemals wieder mitmachen zu dürfen.«
Andie blickte mich schockiert an. »Warum?«
»Zu emotional, hieß es. Zu wenig Abstand. Sie geben mir jeden anderen Fall, den ich haben will. Nur nicht diesen.«
»Das kommt mir ziemlich unfair vor. Was wirst du jetzt tun?«
Ich schaute zu ihr auf. Zu ihren mitfühlend blickenden Augen. Zum Pullover, der sich mit ihren Atemzügen ausdehnte und wieder zusammenzog. »Ich weiß es wirklich nicht, Andie.«
»Weißt du was?« Sie stellte sich direkt vor mich, legte ihre Hände um mein Gesicht. »Du bist tatsächlich viel zu emotional, Pellisante. Und hast zu wenig Abstand.«
Sie strich mit ihren Lippen über meine Wange. Über meine Augen, über meine Lippen. Ich zog sie zu mir heran. Ihr Mund war weich und warm, schmeckte köstlich. Diesmal war sie es, die mich leidenschaftlich küsste. Meine Hand glitt unter ihren Pullover. Über ihren BH. Jeder Nerv in meinem Körper war angespannt und erregt. Meine Nackenhaare stellten sich auf. Andie hatte sehr weiche Haut, sehr hübsche Brüste.
Sie knöpfte mein Hemd auf, während sie mich küsste. Ein Knopf riss ab. Sie ließ ihre Zunge über meine Schultern und meine Brust gleiten, leckte entlang der Narbe. Schließlich zog sie ihren Pullover über ihren Kopf. War es falsch? Sollten wir uns lieber zurückhalten? Nein, es spielte keine Rolle mehr.
Ich öffnete ihre Hose, während ich sie zum Sofa zog. Sie mühte sich mit meiner Hose ab, ihr Haar fiel über mein Gesicht, als sie mich wieder küsste.
»Ich glaube, wir brauchen einander, Nick«, flüsterte sie und berührte meine Wange mit ihren Lippen. »Egal, warum, es ist einfach so.«
Ich befreite mich von meiner Hose und legte mich wieder aufs Sofa, zog ihren weichen Körper auf meinen. Schließlich war ich in ihr, und es fühlte sich alles andere als falsch an. Wir begannen, uns gegeneinander, miteinander zu bewegen.
»Da will ich dir gar nicht widersprechen. Ich bin froh, dass du gekommen bist.«
»Noch nicht … aber gleich.«
Das erste Mal taten wir es wie zwei ausgehungerte Menschen, die nicht genug voneinander bekommen konnten. Die seit langem mit niemandem mehr zusammen gewesen waren. Was zufällig auch der Wahrheit entsprach. Hemmungslos, wild und verschwitzt legten wir ein halsbrecherisches Tempo an den Tag, Fleisch klatschte auf Fleisch. Ich glaube, wir kamen ungefähr gleichzeitig, umklammerten unsere Hände, blickten einander in die Augen und verliebten uns vielleicht bereits.
»Oh, Jesses.« Erschöpft, mit schweißnassem Körper und feuchtem Haar brach Andie auf mir zusammen. »Das war schon lange überfällig, oder?«
»Ja«, keuchte ich. »Überfällig.«
Das zweite Mal war um einiges sanfter. Wir zogen mit einer Flasche Prosecco ins Schlafzimmer um, im CD-Spieler lag eine Tori Arnos. Diesmal ging es langsam und viel romantischer zu, zumindest was meiner Vorstellung von Romantik entsprach.
Es war wie ein langsamer Tanz. Beinahe fanden wir diesen perfekten Rhythmus. Beide waren wir glitschig nass. Ich liebte es.
Beim dritten Mal griffen wir auf die Methode von numero uno zurück. Hatten uns nicht mehr unter Kontrolle. Es war die heißeste Nummer. Vielleicht die beste. Ich glaube, wir hatten uns beide schon viel zu lange danach gesehnt.
Beim vierten …
Ja gut, ein viertes Mal gab es nicht. Wir waren beide leer und erschöpft. Ineinander verschlungen, lagen wir einfach da, Andies Herz pochte gegen meine Brust. Auch das liebte ich.
»Nicht, dass du den falschen Eindruck bekommst«, flüsterte sie. »So einfach bin ich nicht rumzukriegen. Normalerweise gebe ich frühestens nach der zweiten Verhandlung auf.«
»Ich auch«, erwiderte ich schwer atmend. »Sofern wir nicht vorher zu einer einvernehmlichen Lösung gekommen sind.«
Erschöpft, wie ich war, strengte es mich schon an, nur ihr Haar mit einem Finger zu streicheln.
»Ich habe das vorhin ernst gemeint«, flüsterte sie nach einer Weile. »Ich weiß, wie sehr du dir Cavello schnappen willst. Und ich weiß, wie sehr es nach dem, was neulich passiert ist, wehtut. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn einem das, was man in seinem Leben am liebsten hat, genommen wird.«
»Ich weiß, dass du das tust«, sagte ich und zog sie eng an mich.
»Ich will damit sagen, dass das, was zwischen uns passiert, auch ohne das passiert wäre, Nick. Okay?«
»Andie, ich werde mich nicht wieder ins Büro vom FBI setzen und mich mit der Hinterziehung von Unternehmenssteuern beschäftigen. Ich kann nicht. Ich werde mir Cavello schnappen. Mit der Hilfe des FBI oder ohne. Für dich, für mich … das ist egal. Ich finde nicht eher Ruhe, bis die Sache erledigt ist.«
»Und ich?« Sie zuckte mit den Schultern. »Bin ich auch irgendwie darin verwickelt?«
»Du?« Ich stützte mich auf dem Ellbogen ab und lächelte.
»Ja, ich glaube, irgendwie sind wir im Moment ineinander verwickelt.«
»Das meine ich ernst. Was passiert denn jetzt?«
»Jetzt?« Ich wusste keine Antwort. Diese unglaubliche Anziehungskraft zwischen uns machte mir Angst. Eigentlich hatte ich das Gefühl, wieder zum Leben zu erwachen. Plötzlich waren wir wieder bei der Sache, als meine Hände sie streichelten und Andie ihre Fingernägel immer weiter abwärts kreisen ließ.
»Jetzt« – ich legte mich auf sie –, »glaube ich, kommt die Nummer vier.«
Andie und ich schliefen in den nächsten Tagen noch mehrmals miteinander. Aus vier wurden sieben, aus sieben wurden zehn Tage, aber keiner von uns zählte sie wirklich oder tat etwas anderes derart Rationales. Ein paar Mal zogen wir uns sogar an und gingen raus, um etwas zu essen oder einen Kaffee zu trinken. Aber mehr als eines Blickes bedurfte es nicht. Dieses Blickes. Und schon rannten wir wieder nach Hause.
Vielleicht brauchten wir beide diesen Kitzel. Nachdem wir uns mit dem Auftauen lange Zeit gelassen hatten, konnte ich kaum meine Hände von Andie lassen. Ich konnte es nicht abwarten, Andie neben mir zu spüren, mit ihr zu verschmelzen. Ich wollte nicht von ihr getrennt sein. Cavello konnte eine Weile warten, nur dieses eine Mal. Es war, als hätte jemand den Hahn weit aufgedreht, um das Wasser ungehindert fließen zu lassen. Wir brauchten es beide. Aber die Atempause währte nicht lange.
Seit Tagen war ich nicht mehr ans Telefon gegangen. Wenn jemand anrief, hörten wir über den Anrufbeantworter zu und taten so, als käme die Stimme von einem Ort, der Millionen von Kilometern entfernt war.
Bis dieser eine Anruf kam. Die Stimme ließ mich vor Überraschung erstarren.
»Hey, Pellisante.« Dieser affektierte Jersey-Akzent war ungefähr das Letzte, was ich erwartet hatte.
Ich wirbelte herum und griff zum Telefon. »Frankie?«
»Nicky Smiles.« Frank Delsavio tat, als redete er mit einem verloren geglaubten Freund. »Erinnern Sie sich an die Postkarte, über die ich geredet habe? Von unserem gemeinsamen Freund?«
»Ich weiß, von wem du redest, Frank.«
»Na, es ist so weit. Ich habe eine bekommen. Ist das nicht gut?«
Ich erhob mich. »Wo ist er, Frank?« Es war mehr eine Forderung als eine Frage.
»Wo er ist?« Delsavio gluckste, als fände er es lustig, mich hinzuhalten. »Er ist am Ende der Welt, Nicky. Er hat gesagt, das soll ich Ihnen sagen.« Dieser Wichser begann zu lachen. »Das soll ich Ihnen sagen – am Ende dieser verdammten Welt, Nicky Smiles.«
Vielleicht wusste er es. Vielleicht wusste er, dass ich nicht mehr dabei war, dass ich ihn nicht packen konnte, egal, was er sagte oder tat. Ich ballte meine Hände zu Fäusten und spürte, wie das Blut durch meine Adern pulsierte.
»Ich habe ihm gesagt, Sie müssten es wissen und es sei dringend«, fuhr Frank Delsavio immer noch kichernd fort. »Er hat gesagt, ich soll Ihnen Grüße bestellen. Er wollte auch ganz sicher sein, dass ich es in genau diesen Worten sage: Am Ende der Welt. ›Komm und hol mich, Nicky Smiles.‹«

Patterson James
titlepage.xhtml
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_000.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_001.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_002.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_003.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_004.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_005.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_006.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_007.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_008.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_009.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_010.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_011.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_012.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_013.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_014.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_015.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_016.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_017.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_018.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_019.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_020.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_021.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_022.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_023.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_024.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_025.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_026.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_027.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_028.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_029.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_030.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_031.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_032.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_033.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_034.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_035.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_036.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_037.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_038.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_039.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_040.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_041.html
Patterson James - Todesschwur_A346BCD7_split_042.html